Tausche Leistung gegen Menschlichkeit

Eine Frage, die sich mir neulich stellte, war die folgende:

Warum sind wir manchmal so ziemlich genau nur zu dem einen Menschen freundlich, von dem wir uns jetzt gerade in diesem Moment etwas ganz bestimmtes erwarten?

Kurz bevor diese Frage in mir aufkam, durfte ich folgendes Szenario beobachten:

Drei Mitarbeiter sitzen gemeinsam in einem Büro. Ein weiterer Kollege betritt hektisch den Raum und sagt: "Hallo XY!". Ohne dem Angesprochenen eine Möglichkeit zur Reaktion zu lassen, fährt er fort: "Sag mal, könntest du mir bitte..."

Warum wird in dieser Situation nun eigentlich ausschließlich Mitarbeiter XY begrüßt? Warum werden die anderen im Raum befindlichen Menschen ignoriert, als wären sie gar nicht anwesend? Wäre es in einer solchen Situation nicht um einiges höflicher, ein "Hallo!" in die gesamte Runde zu werfen, welches sich nicht nur an einen bestimmten, sondern an alle Anwesenden richtet? Nun ließe sich durch den hektisch hereinstürmenden Kollegen möglicherweise einwenden, dass er die anderen Mitarbeiter nur ungern in ihrer Tätigkeit unterbräche. Unglücklicherweise trifft dieses Argument in einer solchen Situation schlicht und ergreifend nicht zu, denn akustisch wurden bereits alle Anwesenden im Raum "gestört" und die so exklusiv an den Mitarbeiter XY gerichtete "Begrüßung" haben ebenfalls alle mitbekommen. Warum also nicht gleich alle Anwesenden im Raum gemeinsam begrüßen und das vielleicht sogar auf eine Weise, die tatsächlich aufrichtig gemeint ist?

Wenn ich einen Raum betrete, in dem sich bereits Menschen aufhalten, dann sage ich üblicherweise so etwas wie: "Hallo!" oder: "Guten Morgen!" oder einfach nur: "Tagchen!", und das meist sogar mit einem Lächeln auf den Lippen. Mein Gruß richtet sich dabei stets an alle Anwesenden gleichermaßen. Anschließend halte ich kurz inne und warte die Reaktion der Angesprochenen ab. Mitunter entspinnt sich hieraus ein kurzes Gespräch, das nicht selten in entspanntem Gelächter und allgemeiner Heiterkeit endet. Erst danach wende ich mich persönlich an eben jenen Kollegen, dem mein eigentliches Anliegen gilt.

Warum nehmen wir uns so selten die Zeit, zu jedem Menschen freundlich zu sein, der sich in unserem Umfeld aufhält, unabhängig davon, ob er oder sie im Moment gerade etwas für uns tun kann - oder eben nicht? Warum mangelt es uns so häufig an der Zeit für die kleine Pause oder den kurzen Smalltalk zwischendurch? Wollen wir wirklich zulassen, dass der allgegenwärtige Zeitdruck und das Streben nach Effizienz letzten Endes zu Lasten unserer Menschlichkeit gehen, weil all das Zwischen-Menschliche, das uns genauso sehr zum Menschen macht, wie unser Bedürfnis zu essen oder zu trinken, zu schlafen, zu denken, zu kacken oder Sex zu haben, wenn all das Menschliche, das uns zum Menschsein bestimmt, nach und nach in den Mühlen der Effizienz aufgerieben wird?

Ich weiß, es ist nur ein kleines Symptom in einer Welt, in der es von größeren und bedrückenderen Symptomen nur so wimmelt, aber dennoch ist es ein Symptom, an dem jeder bei sich selbst ansetzen kann, etwas zu verändern, wenn er es möchte.

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Leben Ist Veränderung

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