Umarmung als ultima ratio?

"Wenn eine Frau weint, dann nimm sie in den Arm und lass sie nicht mehr los, bis sie dir erzählt, warum sie weint!"
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Nicht alle Menschen sind gleich. Nicht jede Form der Traurigkeit tritt so offensichtlich in Erscheinung, wie z.B. durch das Weinen. Es gibt Menschen, die weinen nicht einmal dann, wenn sie sehr sehr traurig sind. Ein solches Verhalten kann mitunter physiologische Gründe und Ursachen haben - meist sind sie aber psychologischer Natur. 

Die wahren Ursachen der Traurigkeit eines Menschen zu erkennen, das erfordert eine gute Beobachtungsgabe und viel Einfühlungsvermögen - manche nennen es auch Intuition. Und es erfordert Vertrauen. Nur ein Mensch, der vertraut, wird einem anderen Menschen die Ursachen seiner Traurigkeit anvertrauen.

Wenn ich mit einem Menschen bereits ein tiefes Vertrauensverhältnis pflege, dann kann es angebracht sein, dass ich diesen Menschen einfach nur in meine Arme nehme und ihm zuhöre. Wenn das gegenseitige Vertrauen aber noch nicht so stark oder gar nicht vorhanden ist, dann kann es angebracht sein, dass ich diesem Menschen räumlichen und/oder zeitlichen Abstand lasse (manchmal sehr viel Abstand), ihn aber gleichzeitig wissen lasse, dass ich für ihn da bin.

Ich persönlich bin mittlerweile fest davon überzeugt, dass JEDER Mensch tief in seinem Innersten geliebt werden möchte. Und zwar rede ich hier von einer uneigennützigen Form der Liebe, die nicht ausschließlich das Ego des Liebenden bestärkt. Ich rede von einer Form der Liebe, die den geliebten Menschen bestärkt und ihm Flügel verleiht.

Die Liebe zu einem anderen Menschen wird oft missverstanden, als ein Konstrukt des Aneinanderbindens und Erwartungen an den anderen ("Wenn ich dich liebe, dann sollst du...", "Ich hasse dich, weil du..."). Die Liebe wird oft missverstanden als ein Klammern, ein Festhalten, das die Freiheit des anderen Menschen oft unbewusst und nahezu automatisch einschränkt. Meine Freiheit aber hört immer dort auf, wo ich die Freiheit eines anderen Menschen einschränke. Diese gegenseitigen, oft schwankenden und ineinander verschwimmenden Grenzen zu erkennen, das ist die große Kunst der wahren Liebe.

Was du liebst lass frei - Konfuzius

Es gibt leider oder zum Glück(?) kein Patentrezept für die Liebe und so auch nicht für Umarmungen. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf die ihm entgegen gebrachte Liebe - sei sie nun egoistisch oder altruistisch motiviert. Dies hat seine Gründe meist in den persönlichen Lebenserfahrungen des geliebten Menschen, die mittels Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen verstanden werden wollen. Ein Verstehen des anderen Menschen führt zu Mitgefühl und Mitgefühl führt zu Liebe. Liebe wiederum führt zur geistigen und (da wir Menschen lebende Wesen sind) oft auch zur körperlichen Zuwendung zu einem anderen Menschen. Vor allem aber sollte die Liebe zu dem starken inneren Bestreben führen, ein noch tiefer gehendes Verstehen zu ermöglichen. Ich bezeichne dies als den "Kreislauf der Liebe", der stets nur dann anlaufen und seine positive Wirkung entfalten kann, wenn ich einem Menschen vorurteilsfrei, also offenen Herzens und offenen Geistes gegenüber trete.

Nun möchte zwar jeder Mensch sehr gerne geliebt werden, doch nicht jeder Mensch setzt eine Umarmung der eigenen Person durch einen anderen Menschen automatisch mit uneigennütziger Liebe und Fürsorge gleich. Es braucht spezielle Voraussetzungen, sei es das bereits vorhandene Vertrauen in den Umarmenden, sei es das Vertrauen in Menschen im Allgemeinen oder sei es ein durch äußere "Beweise" bestärktes Vertrauen, wie z.B. die Reaktion von Menschen im Umfeld des Umarmenden, um den Umarmten glauben zu machen, dass diese Umarmungen tatsächlich aus uneigennütziger Liebe erfolgen. 

Das Wort "Umarmung" sollte in diesem Zusammenhang übrigens nicht wörtlich aufgefasst, sondern mehr als ein Platzhalter für jede Form menschlicher Zuwendung gesehen werden. Eine "Umarmung" kann also auch ein Telefonanruf, eine E-Mail oder sogar ein einfaches Gespräch von Angesicht zu Angesicht sein, bei dem zwar keine unmittelbare körperliche Umarmung stattfindet, bei dem der "Umarmende" aber vielleicht auch nicht bemerkt, dass er bereits durch seine aufdringliche Art der Gesprächsführung oder vielleicht sogar alleine durch seine bloße Anwesenheit Unwohlsein im "Umarmten" auslöst.

Jede Form der eben genannten Umarmungen kann Unwohlsein auslösen. Vor allem eine Umarmung um ihrer selbst Willen, also eine Umarmung, die ohne Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen für den anderen Menschen geschieht, eine solche Umarmung wird meist Unwohlsein auslösen. Das Gefühl des Unwohlseins kann nochmals deutlich verstärkt werden, wenn der umarmte Mensch aufgrund der bereits erwähnten persönlichen Lebenserfahrungen eine auch noch so wohl gemeinte Umarmung mit einem Klammern und Festhalten des Umarmenden an der eigenen Person assoziiert. In diesem Fall kann eine (zu) lang anhaltende Umarmung starken inneren Widerstand, Traurigkeit, Abscheu, Wut oder sogar Hass auslösen oder verstärken. Emotionen wie Abscheu, Wut und Hass haben ihren Ursprung stets in tief sitzender Traurigkeit. Diese Traurigkeit entspringt dem Unwohlsein über die empfundene innere wie äußere Unfreiheit und der Angst, nicht mehr seinen gewohnten Mustern folgen zu können und damit ein Stück weit Sicherheit zu verlieren.

Dies alles zu erkennen, einen Menschen in seiner Gesamtheit zu erkennen und in einer konkreten Situation angemessen, also tatsächlich liebevoll zu behandeln, das erfordert ein hohes Maß an Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen - nicht nur beim Thema Traurigkeit.

Wenn ich also einen Menschen umarmen möchte, der mir noch nicht tief vertraut, dann ist es in den meisten Fällen angebracht, eine Variante zwischen den beiden oben genannten Extremen zu wählen. Nur in den seltensten Fällen wird der Umarmende durch eine fortgesetzte und lang anhaltende Umarmung den umarmten Menschen dazu bringen ihm zu vertrauen. Diese Form der Umarmung müsste dann aus tief empfundener Liebe und absolut selbstlos geschehen. Der Umarmende muss bereit sein, jeden Schmerz und jede Verletzung durch den umarmten Menschen ohne Widerstand hinzunehmen. Er muss innerlich sehr stark und dafür bereit sein, auch sich selbst zum Wohle des umarmten Menschen zu opfern. Für eine solche Form der selbstlosen Umarmung eines anderen Menschen sind nur die wenigsten unter uns wirklich bereit. Sie ist vergleichbar mit dem was Mahatma Gandhi tat.

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